Allerschönste Zeit des Lebens.

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Ich erinnere mich daran, als ob es noch gestern gewesen wäre: der 23. August 2016, ich, achtzehnjährig und in der Vorfreude auf etwas Neues, saß im Auto mit meinen Eltern auf dem Weg in eine neue Stadt – in die Stadt, in der ich jetzt an der Staatlichen Kuban-Universität studiere. Da ich an diesem Tag Geburtstag hatte, telefonierte ich viel, und alle wiederholten dasselbe: “Das wird die allerschönste Zeit deines Lebens sein”.
Fast 4 Jahre später und fast am Ende meines Studiums kann ich das nur bestätigen – das stimmt doch. Und das Thema des Studiums ist eins von meinen Lieblingsthemen geworden. Eben deswegen bin ich auf die Idee gekommen, das Studentenleben in Deutschland und Russland zu vergleichen. In diesem Artikel geht es um keine Bürokratie, sondern um solche Aspekte, die man normalerweise nicht bespricht. Das Abschreiben, das Verhältnis zwischen Studenten und Professoren, und ob man für das ganze Leben exmatrikuliert werden kann – das alles ist in dem Text zu finden.
Um die authentische Information zu sammeln, habe ich ein Interview mit einem Studenten aus Deutschland durchgeführt. Vladislav Mungalov, Student an der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft, hat meine Fragen beantwortet und dabei viel Erkenntnisreiches erzählt.

Verhältnis zwischen Studenten und Professoren:

Viktoriia: Vlad, erzähl mir bitte, wie Studenten in Deutschland ihre Professoren behandeln? Haben sie Angst vor ihnen?
Vladislav: Bevor ich auf diese Frage antworte, möchte ich den Unterschied zwischen den Fachhochschulen und Universitäten erklären. An den Universitäten ist das Studium mehr theoretisch, und man muss nicht unbedingt immer da sein, weil es sogar 600 Studenten bei der Vorlesung zugleich geben kann, insbesondere in den ersten Semestern, wenn die Leute noch nicht ausgesiebt worden sind, und die Kontrolle ist nicht so fest. An den Fachhochschulen ist es anders: die Gruppen sind kleiner, und da das Studium sich mehr auf die Praxis bezieht und man mehr praktische Übungen hat, muss man schon anwesend sein.
Im Format der Universität hat man gar keine persönlichen Beziehungen mit den Professoren, weil sie niemanden wegen der Zahl der Studenten persönlich kennen. Es kann beispielsweise sein, dass man eine Frage an den Professor hat, dann kann man in der Schlange nach der Vorlesung stehen, um an ihn diese Frage zu stellen. Das kann man aber nicht immer schaffen.
Im Format der Fachhochschule kann man schon die Professoren kontaktieren und sie sogar etwas fragen. Außerdem ist es erwähnungswert, dass manche Professoren erlauben können, sie zu duzen. Sie sind der Meinung, dass sie zusammen mit den Studenten ein Team mit gemeinsamen Zielen seien, und der Arbeitsprozess besser ablaufen könne, wenn eine solche Atmosphäre geschaffen werde.
Angst vor den Professoren gibt es gar nicht, vielleicht nur vor den Prüfungen, weil sie nicht immer leicht sind.
Viktoriia: An den russischen Universitäten stehen Studenten und Professoren enger in Kontakt. Ich kann es natürlich nur auf der Grundlage meiner Erfahrung beurteilen. Die Gruppen sind bei uns klein, 10-15 Menschen, alle sind in Sicht des Professors. Für jede Gruppe gibt es eine verantwortliche Lehrkraft, einen Kurator. In der Regel ist er mit der Organisation des Lernprozesses beschäftigt. Zum Beispiel, wenn die Studenten viel verpasst haben und offensichtlich Probleme haben, können sie nach der Telefonnummer der Eltern fragen, um sie darüber zu informieren. Es gibt auch lustige Situationen: an meiner Fakultät gibt es mehr Mädchen als Jungen, und es kommt manchmal vor, dass manche im Alter von 22-23 schon verheiratet sind. Auf die Anforderung, die Telefonnummer der Eltern zu geben, antworten sie, dass sie die Telefonnummer des Ehemannes geben können.
Während meines Studiums habe ich auch bemerkt, dass viele Studenten die Professoren nicht als gewöhnliche Menschen behandeln, sondern als geheimnisvolle Lebewesen mit einer Reihe von unbekannten Eigenschaften. Wenn die Studenten den neuen Namen auf dem Stundenplan sehen, erkundigen sie sich bei den anderen sofort nach allen Details. Zum Beispiel, wie der Lehrer reagiert, wenn die Aufgaben nicht mit der Hand geschrieben, sondern gedruckt werden (ja, das ist manchmal sehr prinzipiell), ob man während der Vorlesung rausgehen darf, ob man Kaffee zu den Vorlesungen dieses Professors mitbringen darf, und so weiter.

Verschonung:

Viktoriia: Manchmal kommt es vor, dass die Studenten eine Prüfung nicht bestehen. Ich weiß, dass es an den deutschen Universitäten drei Versuche gibt, die Prüfung zu bestehen, und der Letzte von denen ist mündlich. Das heißt, die Studenten werden direkt von den Professoren bewertet. Kann es so sein, dass die Studenten verschont werden und die Mindestnote „geschenkt“ bekommen?
Vladislav: Nein, so etwas gibt es hier gar nicht. Falls man schon bei dem dritten Versuch ist und immer noch nichts kapiert, warum soll man dann verschont werden? Darüber hinaus gibt es mehr als einen Professor, und es macht das unmöglich. Also wenn man nicht in der Lage ist, die Mindestnote zu bekommen, wird man exmatrikuliert.
Viktoriia: Ich habe so etwas selber nicht erlebt, aber manche Professoren erzählen, dass es Studenten gebe, die in solchen Situationen sogar weinen würden, um um jeden Preis an der Universität zu bleiben. Ich habe keine Ahnung, was am Schluss passiert, aber in der Tat gibt es nicht so viele Exmatrikulationen bei uns.

Sperrung an allen Hochschulen:

Viktoriia: Ist es wahr, dass man sein Fach bundesweit nicht mehr studieren darf, falls man exmatrikuliert wurde?
Vladislav: Ja, wenn man die Prüfung nicht bei dem dritten Versuch ablegt, wird man an allen Universitäten Deutschlands gesperrt. Außerdem gibt es sogar solche Fälle, wenn sich die Sperrung nicht nur auf diesen bestimmten Studiengang bezieht, sondern auch auf alle, die damit im Zusammenhang stehen. Nehmen wir an, dass du Mathematik studiert hast, und du von der Universität verwiesen wurdest, kannst du dann auch keine Statistik studieren, weil das verwandte Fachrichtungen sind.
Viktoriia: In Russland ist es anders: man darf wieder aufgenommen werden, oder sogar die Universität oder die Fachrichtung wechseln. Aber in diesem Fall muss man ein paar extra Prüfungen bestehen.

Das Abschreiben:

Viktoriia: Schreiben die Studenten die Hausaufgaben, die Klausuren ab? Bringen sie die Spicker zu den Prüfungen und Klausuren mit?
Vladislav: Zu manchen Klausuren wird man nur dann zugelassen, wenn man bestimmte Arbeiten eingereicht hat, sie werden manchmal zusammen gemacht, die Studenten beraten sich gegenseitig, aber niemand schreibt ab. Im zweiten Semester gab es einen Fall: wir bereiteten die Programmierprojekte vor, und eine Gruppe kopierte einen Teil des Codes der anderen Gruppe. Der Professor hat das natürlich bemerkt, die Studenten wurden zu einem Gespräch mit dem Dekan gerufen. Ich weiß nicht, wie das geendet hat.
Zu den Prüfungen bringt man keine Spicker mit. Der Grund ist folgend: die Zeit ist sehr begrenzt und reicht dafür einfach nicht. Außerdem gibt es die Leute da, die dafür extra geschult wurden, die abschreibenden Studenten zu erkennen. Glaub mir, man braucht das einfach nicht. Das Hauptziel ist nicht, etwas auswendig zu lernen, sondern den Lehrstoff zu verstehen und zu wissen, wie du das später anwenden wirst.
Viktoriia: Ehrlich gesagt, kenne ich keinen Menschen, der nicht abschreiben würde. Mit den Hausaufgaben ist es so, dass wir ziemlich viele haben, und wenn der Professor fordert, ein ganzes Kapitel in zwei Tagen bearbeitet zu haben, schreiben viele das bloß ab. Das ist aber natürlich nicht immer so - wenn die Arbeit im Voraus geplant und ausgewogen ist, hat man normalerweise kein Problem damit.
Was die Spicker bei den Prüfungen anbetrifft, bringt man zwar viele mit, aber man benutzt sie nicht immer. Viele Bekannte von mir sind der Meinung, dass es eine gute Art und Weise sei, sich sicher zu fühlen. Und einen Spicker zu erstellen, sei eigentlich keine schlechte Vorbereitungsmethode.

Belohnung:

Viktoriia: Kommt es vor, dass die Prüfung für eine aktive Teilnahme an dem Lernprozess während des Semesters automatisch als bestanden anerkannt wird?
Vladislav: Nein, so etwas gibt es nicht. Die Anwesenheit der Studenten ist allen egal, man muss nicht unbedingt im Unterricht erscheinen. Automatisch werden keine Prüfungen bestanden. Für jedes Fach gibt es eine bestimmte Zahl der Punkte, und man muss mindestens die Hälfte erhalten. Die Zusatzpunkte sind der einzige Bonus, den man bekommen kann, wenn man echt aktiv ist. In der Regel sind es 10% der Gesamtzahl.
Viktoriia: Bei uns ist es möglich. Jeder Professor entscheidet aber selber, ob er das anbietet oder nicht. Am Anfang des Semesters sagt er Bescheid, ob es so etwas gibt und was man dafür erledigen muss. Es kommt manchmal auch vor, dass die Studenten erst am Tag der Prüfung erfahren, dass sie die Note automatisch bekommen.

Dieses Gespräch führten wir mit Hilfe der Voice Messages auf Instagram, und hier möchte ich die gemeinsame Liebe zu den sozialen Netzwerken und den neuen Technologien bei allen Studenten erwähnen. Die Ansichten über viele Sachen sind zweifellos in den beiden Ländern verschieden, und man sieht das nach diesem Gespräch noch deutlicher. Aber das Wichtigste ist, immer im Kopf zu behalten, dass wir trotz allen Besonderheiten der Denkweise und der Lebensgestaltung in Vielem gleich sind. Und wenn man das versteht, kann man immer aufgeschlossen und freundlich bleiben.

Viktoriia Chernysheva
4 Jahre 5 Monate her #80

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M. C. antwortete auf Allerschönste Zeit des Lebens.

Hallo Viktoriia, ich habe gerade deinen Artikel zum zweiten Mal, nach langer Zeit, gelesen. In dieser Kristenzeit ist er für mich besonders erfrischend! Das war und ist eine gute Idee. Danke!
4 Jahre 2 Monate her #90

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